Warum es für die Proteinwende eine politische Roadmap braucht, wie sie erarbeitet werden kann und woher der neue Ernst im Diskurs kommt, wissen Fabio Ziemßen (BALPro), Ivo Rzegotta (Good Food Institute Europe, GFI) und Jens Tuider (ProVeg International).
NEWMEAT: Warum die Zusammenarbeit zwischen GFI, ProVeg und BALPro?
Jens Tuider: Es war eine Gelegenheit, die sich organisch entwickelt hat und für die angestrebte Proteinwende Sinn macht. Wir haben auf der einen Seite mit BALPro einen Branchen- beziehungsweise Wirtschaftsverband, der die Herstellungsseite im Blick hat, und auf der anderen Seite mit dem GFI und ProVeg zwei gemeinnützige NGOs, die einen sehr holistischen Blick auf die Proteinwende und die damit verbundenen Vorteile für den Klima-, Umwelt-, Gesundheits- und Tierschutz haben. In dieser repräsentativen Konstellation bündeln wir unsere Ressourcen und können eine Vielzahl von Sektoren abbilden. So lässt sich sicherstellen, dass die verschiedenen Interessen der Branche zusammengebracht und ganzheitlich diskutiert werden können.
NEWMEAT: Was sind eure gemeinsamen Ziele?
Ivo Rzegotta: Uns eint die Auffassung, dass wir in Deutschland alle Voraussetzungen dafür haben, um bei der Ernährungs- und Proteinwende ein weltweiter Vorreiter zu sein. In Deutschland finden wir im Plantbased-Bereich aber auch in den Novel-Food-Kategorien sehr innovative Startups, die vielversprechende Ansätze verfolgen. Unternehmen der etablierten Lebensmittelwirtschaft prägen immer mehr die Landschaft der Alternativen und leisten einen starken Beitrag. Zudem haben wir leistungsfähige Maschinenbauer und andere Zulieferer, die das Rückgrat dieser neuen Industrie werden können. Und schließlich haben wir in Deutschland eine leistungsstarke Forschungs- und Innovationslandschaft, die es so auf der Welt nicht noch einmal gibt. Dazu zählen neben den Hochschulen vor allem die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, wie zum Beispiel die Fraunhofer-Gesellschaft. Seit September 2022 gibt es zudem an der TU München den weltweit ersten Lehrstuhl für zelluläre Landwirtschaft. Wir wollen Vorschläge zur Nutzung dieses Potenzials bei den Leuten einbringen, die darüber entscheiden, wie die Zukunft der Proteinwende in Deutschland aussieht.
Jens Tuider: Die Proteinwende ist das Herzstück der Transformation des Ernährungssystems. Ohne alternative Proteine werden wir es nicht in kurzer Zeit schaffen, die Menschen zu einem nachhaltigeren Konsum zu ermutigen. Denn attraktive Alternativen sind bedeutend wirkungsvoller als bloße Appelle oder Verzichtsforderungen. Und für diese zentrale Rolle der Proteinwende braucht es auf allen Seiten Akzeptanz und Verständnis für die Chancen und Potentiale. Vielen Verbrauchern ist nicht genau klar, was alternative Proteine sind. Ihre Rolle als Schlüsselelement der Transformation muss noch gefestigt werden. Das ist der Bereich Konsumentenaufklärung. Dann haben wir die Politik, die regulatorische Weichenstellungen vornehmen, fördern und unterstützen muss. Hier gibt es besondere Herausforderungen. Denn in einem stark durch private Investitionen getriebenen Start-up Bereich, wo in Silos gearbeitet und Wissen nicht geteilt wird, werden Prozesse entschleunigt. Der Staat kann hier für einen besseren Ausgleich und bessere Bedingungen für alle deutschen Start-ups sorgen, indem er die Schaffung von Grundlagenwissen fördert und frei zugänglich macht. Zugleich gilt es, die Bezeichnungsfreiheit für diese neuen Produkte zu wahren, so dass sie von Konsumenten leicht erkannt werden können. Und letztlich muss auch das Potenzial der Proteinwende für ein nachhaltigeres und besseres Geschäftsmodell an die Erzeuger und Landwirte kommuniziert werden.
NEWMEAT: Wie wollt ihr das erreichen?
Fabio Ziemßen: Mit einem umfassenden Anforderungskatalog und konkreten Handlungsempfehlungen. Wir haben alle relevanten Akteure adressiert und an einen Tisch geholt, um zu erörtern, wo wir aktuell stehen, wo es Handlungsbedarf gibt und um daraus mittel- bis langfristig Initiativen aufzusetzen. Diesen müssen wir jetzt im Schulterschluss mit der Politik den entsprechenden Unterbau verleihen. Dabei geht es primär um den Bereich der Novel Foods, weil es dort den stärksten Handlungsbedarf gibt, aber auch um vorgelagerte Themen, die jetzt schon angegangen werden müssen. Es braucht zudem Transformationsunterstützung, um auch etablierte Akteure und die Landwirtschaft mit auf die Reise zu nehmen. Das ist eng an eine gemeinsame Perspektive gekoppelt, wie der Bereich für eine nachhaltige Transformation des eigenen Geschäftsmodells sorgen kann. Wettbewerbsfähigkeit ist nur dann gegeben, wenn Innovationen sowie Forschung und Entwicklung unter den gleichen Voraussetzungen entstehen und getestet werden können. Der deutsche Mittelstand muss dabei gerade im internationalen Wettbewerb stark auf Kosten achten und ist von internationalen Lieferketten abhängig.
Ivo Rzegotta: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir in Deutschland Handlungsbedarf in fünf Feldern sehen. Das erste Feld betrifft die stärkere Verankerung der Proteinwende im Regierungsprogramm. Eine große Chance dafür ist die aktuelle Erarbeitung der Ernährungsstrategie, wo eine Förderung von nachhaltigen Alternativprodukten auf den Weg gebracht werden sollte. Das zweite Feld ist Forschungsförderung. Derzeit findet Forschung zu alternativen Proteinen fast ausschließlich in Unternehmen statt. Hier sollte die Politik mit öffentlichen Investitionen die Ernährungswende voranbringen, wie sie es zuvor bei der Energiewende und bei der Transportwende getan hat. Das dritte Feld betrifft die Infrastruktur. Der Bau von teuren Pilot- und Produktionsanlagen lässt sich nicht allein mit VC-Kapital stemmen. Hierfür braucht es neue Finanzierungsquellen wie Kredite von Banken. Die Politik kann eine große Rolle dabei spielen, das Investitionsrisiko für Banken zu senken, etwa durch Bürgschaften. Der vierte Punkt ist die Zulassung von Novel-Food-Produkten. Wir sehen, dass in anderen Teilen der Welt mit einem ähnlich hohen Sicherheitsniveau die Prozesse sehr viel kürzer sind und die Unternehmen viel stärker dabei unterstützt werden. Das müssen wir auch tun. Im fünften Handlungsfeld geht es um fairen Wettbewerb. Es sollte beispielsweise auf pflanzliche Milch nicht länger ein höherer Mehrwertsteuersatz angewendet werden als auf Kuhmilch.
NEWMEAT: Warum sollten gerade jetzt diese Forderungen plötzlich Gehör finden?
Jens Tuider: Es gibt jetzt ein stärkeres Interesse und auch mehr Zuhörer. Inzwischen merken wir, dass sich die einzelnen Akteure für die Themen rund um Transformation öffnen. Endlich auch in der Politik. Dort hat man das Multiproblemlösungspotenzial der Proteinwende erkannt. Man sieht, auf welche Ziele die Wende einzahlt, ob beim Klima- und Tierschutz oder bei der Ernährungsgerechtigkeit. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass es sich nicht nur um eine Problemlösung handelt, sondern gleichzeitig um eine unglaubliche Chance, von der viele profitieren können. Es geht um nachhaltige und zukunftsfähige Arbeitsplätze, die Sicherung des Innovationsstandorts und der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Es finden zum ersten Mal ernsthafte Diskussion statt, es findet ernsthaftes Zuhören statt, es zeigt sich ein ernsthaftes Interesse bei denen, die die entscheidenden Weichenstellungen vornehmen können. Wir müssen diese Phase der Aufklärung und Bewusstwerdung nutzen. Die aktuellen Entwicklungen bieten dafür ein hervorragendes Potenzial.
NEWMEAT: Woran machst Du das fest?
Jens Tuider: An der Bereitschaft, der Anzahl aber auch an der Qualität des Austauschs mit den Entscheidungsträger:innen. Wir haben das Thema schon lange mit aller Dringlichkeit vorgetragen, ohne große Resonanz. Inzwischen setzt sich aufgrund der Erkenntnisse bei immer mehr Entscheidungsträgern durch, dass eine Ernährungswende drängend ist. Die Tatsache, dass bei der COP 27 zum ersten Mal das Thema Ernährung als Ursache der Klimaerwärmung anerkannt worden ist, ist von enormer Bedeutung. Auch in Deutschland hat sich im Diskurs etwas verändert, auch wenn hier die Mühlen etwas langsamer mahlen als anderswo. Wir diskutieren in Deutschland gerne sehr ausführlich, haben viele bürokratische Hürden aufgebaut, die genommen werden wollen. Aber zumindest haben wir uns mittlerweile ernsthaft auf den Weg begeben. Wenn wir wollen, können wir da auch schnell wieder viel aufholen.
Ivo Rzegotta: Was wirklich Anlass zum Optimismus gibt, ist ein Blick in die Welt. Vor drei Jahren waren private Unternehmen in diesem Bereich weltweit auf sich selbst gestellt. Heute erreichen uns alle paar Wochen Meldungen aus vielen Ländern der Welt, die alternative Proteine zu einer Priorität erklären. Die USA haben biotechnologische Verfahren zur Herstellung von nachhaltigen Lebensmitteln per Präsidentenerlass zu einem Schwerpunkt deklariert. Der Premierminister von Japan hat vor wenigen Wochen erklärt, kultiviertes Fleisch sei eine Lösung für viele Probleme und man werde konsequent investieren. China hat das Thema in seinen Fünfjahresplan für die Landwirtschaft aufgenommen. Das sind die größten Volkswirtschaften der Welt. So weit müssen wir aber gar nicht blicken, auch in Europa sehen wir, dass überall um uns herum in die Proteinwende investiert wird – von den Niederlanden über Dänemark, Norwegen, Großbritannien bis hin zu Frankreich. In Deutschland gibt es einige vereinzelte öffentliche Investitionen mit niedrigeren Volumina. Um hier nicht den Anschluss zu verlieren, braucht es deutlich mehr Anstrengungen im Hinblick auf die Volumina und die Entscheidungsgeschwindigkeit.
NEWMEAT: Welche Bedeutung hat der Bericht an den Bundestag für Deutschland?
Fabio Ziemßen: Das ist ein wichtiges Signal, durch das für jeden ersichtlich wird, dass es eine wissenschaftliche Basis gibt, die die Relevanz dieser technologischen Entwicklung aufzeigt. Es ist ein Dokument, auf das man sich in Diskussionsrunden berufen kann und das keinen großen Spielraum für Interpretationen lässt. Das ist wichtig. Denn internationale Initiativen zur Förderung von neuen Proteinlösungen werden zunehmend angestoßen. In diesem Kontext müssen wir aufpassen, dass wir nicht auf einen Braindrain zusteuern. Unheimlich viele Fachkräfte wandern bereits ab, weil sie anderswo bessere Möglichkeiten haben, während wir in politischen, prozessualen und bürokratischen Diskussionen verhaften. Viele europäische Unternehmer:innen, mit denen ich mich in letzter Zeit unterhalten habe, wollen Dependancen in den USA aufbauen, wenn nicht sogar ihre Operations dorthin verlegen. Wenn man diese Pläne in ihrer Intensität so geballt von Akteuren aus der Schweiz, aus Spanien, aus Skandinavien und aus Holland hört, macht man sich Gedanken. Wir müssen ins konkrete Handeln kommen und zum Beispiel Verkostungen in Deutschland möglich machen. Darüber hinaus brauchen wir eine zentrale Anlaufstelle mit Informationen zum Zulassungsprozess oder über das Thema Förderung für Start-ups und etablierte Unternehmen.
NEWMEAT: Wen brauchen wir auf der Regierungsebene, um diese Dinge anzustoßen?
Ivo Rzegotta: Die Novel-Food-Verordnung ist auf der europäischen Ebene angesiedelt, doch es gibt Dinge, die Nationalstaaten tun können. Zunächst einmal muss Deutschland natürlich sicherstellen, dass die Entscheidungen evidenzbasiert sind. Im letzten Schritt des Zulassungsverfahrens entscheiden die 27 Mitgliedsstaaten mit, und hier muss klar sein, dass Deutschland sich für Produktzulassungen stark macht, die von der EFSA als sicher eingestuft wurden. Die Bundesregierung kann viel mehr tun, um unsere heimischen Unternehmen in dem Zulassungsprozess zu unterstützen. Was helfen würde, wäre eine zentrale Anlaufstelle, die Unternehmen durch den Zulassungsprozess manövriert, und maßgeschneiderte Leitfäden. Es ist ein Unterschied, ob ich ein Produkt für kultivierten Fisch zulassen möchte oder tierfreien Käse aus Fermentation. Die Unternehmen müssen beispielsweise wissen, welche Gutachten sie jeweils einbringen müssen.
NEWMEAT: Wer soll diese Maßnahmen steuern?
Ivo Rzegotta: Bei einer neuen Zukunftstechnologie braucht es immer auch einen Plan, wo man eigentlich hinwill. Die Bundesregierung sollte gemeinsam mit allen Stakeholdern eine verbindliche Roadmap für den Markthochlauf von alternativen Proteinen entwickeln und diese dann entschlossen umsetzen. Zu einer solchen Roadmap gehört ein Ziel, zum Beispiel eine Marktabdeckung von 25 Prozent bis 2030, das mit entsprechenden Maßnahmen unterlegt wird. Wichtig ist dabei, dass alle relevanten Ressorts von Anfang an mit dabei sind: das Wirtschaftsministerium, das Forschungsministerium, das Umweltministerium, das Finanzministerium. Denn alternative Proteine sind im Kern kein Nischenthema im Agrarressort, sondern eine vielversprechende Klima- und Umweltschutztechnologie. Hier müssen Aufgaben definiert werden, um das gemeinsame Ziel zu realisieren, in diesem Sektor zu einem der internationalen Vorreiter zu werden. In anderen Ländern sehen wir, dass es Hebel gibt, um das zu erreichen. Diese Best Practices müssen wir nutzen. Dann werden wir dazu in der Lage sein, sehr viel mehr zu bewegen, als uns bewusst ist.